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#10 Die Geschichte von Mönch Tenzin und der leeren Schale

Eine Geschichte, die mir ein guter Freund erzählte, nachdem er von seiner Tibet-Reise zurückgekehrt war.


Vor vielen Jahren, hoch oben in den Bergen Tibets, lebte ein Mönch namens Tenzin Dorje. Sein Kloster war klein, von uralten Pinien umgeben, und lag so abgelegen, dass man drei Tage laufen musste, um das nächste Dorf zu erreichen.

Tenzin war bekannt für seine tiefe Gelassenheit. Die Dorfbewohner sagten: „Er ist wie ein stiller See – egal wie sehr der Wind bläst, seine Oberfläche bleibt klar.“


Eines Tages kam ein junger Schüler namens Dorje Namgyal (Er möge mir verzeihen, wenn ich den Namen nicht richtig geschrieben habe.) zu ihm. Der Junge war voller Unruhe.„Meister Tenzin“, begann er, „ich habe alles versucht, um Frieden zu finden. Ich meditiere jeden Morgen, ich spreche Mantras, ich faste. Aber mein Herz ist immer noch voller Ärger, Sorgen und Neid. Was soll ich tun?“


Tenzin antwortete nicht sofort. Stattdessen stand er auf, ging langsam zu einem kleinen Regal und holte eine einfache Teeschale. Er füllte sie bis zum Rand mit Wasser, so sehr, dass sich ein kleiner Spiegel aus Flüssigkeit bildete.„Trage diese Schale durch den Klostergarten, einmal den ganzen Weg, und komme zurück, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten.“


Der Schüler nahm die Schale und ging vorsichtig los. Jeder Schritt war bedacht, seine Augen fest auf das Wasser gerichtet. Nach einer Weile kehrte er zurück, und nicht ein einziger Tropfen war verloren.


„Hast du etwas bemerkt?“ fragte Tenzin.„ Ja, Meister. Ich war so konzentriert darauf, die Schale nicht zu verschütten, dass ich nichts anderes wahrgenommen habe. Kein Vogel, keine Blume, nicht einmal den Wind.“


Tenzin nickte langsam. „So ist es mit deinem Geist. Wenn er voller Ärger, Sorgen oder Gier ist, bleibt kein Platz für Frieden. Deine Schale ist voll – und solange sie voll ist, kann nichts Neues hineinfließen.

Willst du Frieden, musst du zuerst lernen, sie zu leeren.“


Der Schüler sah verwirrt aus. „Aber Meister… wie leert man eine Schale, die man nicht einfach ausschütten kann?“


Ein sanftes Lächeln huschte über Tenzins Gesicht. „Indem du achtsam jeden Tropfen loslässt – einen nach dem anderen. Mit jedem Atemzug, in dem du bewusst bist. Mit jedem Schritt, den du achtsam setzt. Mit jeder Handlung, die du aus Mitgefühl tust. Das Leben wird deine Schale immer wieder füllen – mit Lärm, Erwartungen, Sorgen. Aber du entscheidest, womit du sie füllst. Und du entscheidest auch, was du loslässt.“


Der Schüler schwieg lange. In der Ferne rief eine Krähe, der Wind spielte in den Pinien. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Dorje Namgyal, wie etwas in ihm leichter wurde – als hätte er einen winzigen Tropfen aus seiner Schale gegossen.


Tenzin Dorje legte ihm die Hand auf die Schulter. „Erinnere dich: Nicht die Größe der Schale bestimmt dein Glück, sondern das, womit du sie füllst.


Lerne loszulassen – und der Frieden findet dich.“

 
 
 

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