#13 Die Geschichte von den zwei Mönchen und der Frau am Fluss
- Martin Dollhäubl

- 14. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Die Geschichte von Tanzan und Ekidō ist eine bekannte Zen-Koan-Anekdote und stammt aus der Sammlung Zen Flesh, Zen Bones von Paul Reps & Nyogen Senzaki, erstmals veröffentlicht 1957.
Sie basiert auf mündlich überlieferten Geschichten aus dem japanischen Zen-Buddhismus, die teilweise auf Ereignisse aus dem 19. Jahrhundert zurückgehen. In der englischen Ausgabe ist sie unter dem Titel "Carrying a Girl" enthalten. Die hier geschriebene Geschichte ist von mir erzählt und interpretiert.
Vor vielen Jahrhunderten lebten in einem Kloster in Japan zwei Mönche: Tanzan und Ekidō. Sie waren enge Freunde, doch unterschiedlicher konnten ihre Sichtweisen nicht sein. Tanzan war offen, neugierig und immer bereit, das Gute zu sehen. Ekidō dagegen hielt sich streng an Regeln, war kritisch und achtete mehr darauf, Fehler zu vermeiden, als Freude zu finden.
Eines Tages waren die beiden auf einer Reise zu einem entfernten Tempel. Es hatte tagelang geregnet, und die Straßen waren voller Schlamm. Als sie an einen kleinen Fluss kamen, sahen sie eine junge Frau in einem feinen Kimono, die verzweifelt am Ufer stand.
Die Brücke war vom Wasser weggespült worden, und der Fluss war zu tief, um trockenen Fußes hindurchzugehen.
Tanzan ging ohne zu zögern zu ihr hin, lächelte und sagte: „Steigen Sie auf meinen Rücken, ich trage Sie hinüber.“ Die Frau errötete vor Verlegenheit, nickte aber dankbar und hielt sich an ihm fest. Ein paar Minuten später setzte er sie sanft auf der anderen Seite ab. Sie bedankte sich, verbeugte sich tief und ging ihres Weges.
Die beiden Mönche setzten ihre Reise fort – doch Ekidō sprach kein Wort. Er runzelte die Stirn, blickte ernst geradeaus, und sein Schweigen lag wie eine schwere Wolke zwischen ihnen.
Erst viele Stunden später, als sie das Kloster fast erreicht hatten, brach er heraus: „Bruder, du weißt, dass wir Mönche keinen Körperkontakt zu Frauen haben dürfen. Es ist eines unserer obersten Gesetze. Du solltest dich Schämen und um Verzeihung bitten. Du hast Schande über unseren ganzen Orden gebracht. Warum hast du sie getragen?“
Tanzan lächelte sanft und sagte: „Ich habe die Frau vor Stunden über den Fluss getragen und am anderen Ufer abgesetzt. Du hingegen trägst sie immer noch mit dir herum.
Diese kurze Begegnung trägt eine tiefe Weisheit: Es ist nicht die Situation selbst, die uns belastet – sondern unsere Wahrnehmung und das, worauf wir unseren Fokus richten.
Tanzan sah eine Frau in Not, half und ging weiter. Ekidō sah einen Regelbruch, hielt daran fest und trug den Ärger kilometerweit mit sich.
Was das mit uns zu tun hat
Jeden Tag erleben wir unzählige Situationen. Manche sind angenehm, manche herausfordernd. Aber das, woran wir festhalten, bestimmt, wie wir den Tag erleben.
Wenn du wie Ekidō ständig bei dem bleibst, was dich stört oder was schiefgelaufen ist, dann läufst du – im übertragenen Sinne – mit einer schweren Last durch dein Leben.
Wenn du wie Tanzan lernst, etwas Gutes zu sehen, das Nötige zu tun und es dann loszulassen, wird dein Weg leichter.



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